[ZITATE-FREITAG] Nullpunkt

Hallo ihr Lieben,

es ist wirklich lange her, dass ich einen Zitate-Freitag außerhalb der üblichen Special Weeks gemacht habe – dabei habe ich wirklich viele tolle Bücher gelesen, die ich gerne hier vorstellen möchte. Es wird Zeit, die Rubrik wieder aufleben zu lassen, denn “nur” Rezensionen sind auf Dauer ziemlich langweilig, oder? Ich werde also schauen, ob ich es nicht zumindest einmal im Monat schaffe, ein Buch mittels Zitaten vorzustellen. Dieses Mal habe ich mich für “Nullpunkt” von Mo Kast entschieden – das Buch ist wirklich beeindruckend, das sollte viel mehr Leser finden 🙂

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meine Rezension

Meine Wohnung sah unordentlich aus. Nein, das war untertrieben, sie sah verheerend aus. So als hätte ein fürchterliches Gemetzel darin stattgefunden und man hatte nur die Gnade besessen, die Leichen, Körperteile und das Blut zu beseitigen. Der altmodische Wandschrank und die Couch mit ihrem 60iger Jahre Charme lagen in Trümmern vor mir, genau wie die anderen Teile der altbackenen Einrichtung. Der gerüschte Vorhang hing auf Halbmast an der Gardinenstange und die Retro Blümchentapete hatte man brutal von den Wänden gerissen. Sie lag geschlagen am Boden. Die Trümmer meiner Existenz.

“Nullpunkt”, 1% (c) Mo Kast

„Hey, Enni, Großer!“, begrüßte mich Nico begeistert und hatte den Arm um mich gelegt, als würde er mich schon ewig kennen.

„Nenn mich nicht so.“ Ich schüttelte seinen Arm ab und ich hoffte, er hatte nicht bemerkte, dass ich erschrocken zusammengezuckt war. Ich war es nicht gewohnt, dass mich jemand ungefragt anfasste, besonders wenn ich die Person nicht kannte oder in Nicos Fall einfach nicht mochte.

„Wie soll ich dich sonst nennen? Ennoah ist so lang.“ Nico ging unbeeindruckt weiter neben mir her. Er hatte mich erwischt, als ich aus dem Schulgebäude gekommen war und mich schon von Robert verabschiedet hatte. Von Nicos Freunden sah ich auch niemand. Die Situation war mir suspekt.

“Nullpunkt”, 15% (c) Mo Kast

Sein Kuss schmeckte nach Metall, irgendwie. Seine Piercings hatten sich kurz kalt an meinen Lippen angefühlt, war aber nicht unangenehm gewesen. Es war interessant leicht mit den Zähnen an den Ringen zu ziehen und dafür energischer geküsst zu werden. Vielleicht waren Piercings alles in allem gar nicht so schlecht. Möglicherweise konnte man das auch über Nico sagen.

“Nullpunkt”, 28% (c) Mo Kast

„Wir sind keine Freunde, wir ficken nur.“ Ich hatte keinen Bock diplomatisch und nett zu sein oder irgendjemand etwas vorzumachen. Ich freute mich nicht mal Eddy zu sehen. Eigentlich war ich sogar stinksauer. Nach Wochen kommt er hier her und hat nichts Besseres zu tun, als mir Vorwürfe wegen Nico zu machen?!

„Charmant wie immer“, kommentierte Nico störend. Er hatte wohl keine Lust zwischen mir und Eddy zu stehen. Ich hatte nicht mal Lust, dass einer der beiden hier war.

„Verpiss dich einfach, ich will mit Eddy reden“, knurrte ich schlecht gelaunt und Nico verdrehte nur die Augen.

„Wie Ihr befehlt, Meister!“ Er deutete eine Verbeugung an und drängte sich an Eddy vorbei, der sofort einen Schritt beiseite machte, als er bemerkte, dass Nico auf ihn zukam. Er wollte wohl jede mögliche Berührung mit Nico vermeiden. Könnte ja ansteckend sein, das mit den Piercings oder dem Kerle vögeln.

“Nullpunkt”, 40% (c) Mo Kast

Ich wollte malen, ich musste malen. Ich würde erst wieder schlafen können, wenn ich jetzt einen Pinsel nahm und einfach mal was mit Farbe machte. Ich musste an meiner Mappe arbeiten. Ich wollte auf diese Uni und wenn ich dafür Farbe auf die Leinwand kotzen müsste, würde ich das auch tun! Ich wusste nicht, woher dieser innerliche Motivationsschub kam und hatte auch meine leisen Zweifel, dass er lange anhalten würde, aber jetzt wollte ich ihn nutzen. Im fahlen Licht der Nachttischlampe, betrachte ich kritisch die paar Farben, die ich gefunden hatte. Anderes Licht gab es in diesem Raum momentan
nicht. Es waren Wandfarben und ein paar Acrylfarben, die mir irgendwer mal geschenkt hatte. An Pinseln hatte ich nur ein paar halbtote, ausgefranste Teile gefunden, aber die mussten es schon tun. Ich wollte ja kein Gemälde malen, ich wollte einfach nur … keine Ahnung. Farbe, Papier, drauf damit.

“Nullpunkt”, 55% (c) Mo Kast

Komische Gedanken flatterten an mir vorbei und ich machte mir nicht mal die Mühe, sie zu fassen. Waren nicht wichtig, würden mich nur weiter deprimieren. In die Schule gehen? Pah, für was denn noch? Ich würde sowieso niemals studieren. Wer würde schon so jemand wie mich freiwillig auf eine Uni lassen? In der Schule waren nur überall diese Menschen, die mit einem reden wollten. Bla Bla Bla. Wie geht es dir denn nach diesem Verlust? Bla Bla Bla. Du siehst nicht gut aus, bist du sicher, dass du zurechtkommst? Bla Bla Bla. Wir verstehen deine Lage ja, aber Schulregeln sind Schulregeln. Du darfst nicht mehr fehlen. Bla Bla Bla. Blaaa. Ich könnte so kotzen.

Außerdem war dort Nico … Und? Nico. Nico war doch egal, oder? Nein, er war nicht egal. Er war so was von nicht egal. Er ist auch einfach gegangen. Er war egal, meine Mutter war egal, Eddy war egal … oder mein Leben war egal.

“Nullpunkt”, 65% (c) Mo Kast

Ich blieb auf dem kühlen Boden sitzen. Mittlerweile hatte ich nur noch Licht von der kleinen Nachttischlampe, die sich Nico hier reingestellt hatte. Langsam verschwamm das Bild vor meinen Augen, der
Pinsel fiel mit einem leisen Klack auf die Dielen und ich konnte mich nicht mehr rühren. Ich fühlte mich so unendlich erschöpft. Ich wusste nicht einmal, wie ich mich wieder erheben sollte. Die Kälte des Bodens zog sich durch meinen Körper und alles fühlte sich irgendwie taub an.

Nullpunkt erreicht.

“Nullpunkt”, 60% (c) Mo Kast

Ich tunkte die Rolle in die weiße Farbe, streifte etwas von der überschüssigen Farbe ab und strich dann mit einer großzügigen Bewegung über Nicos Gesicht. Es war kein Gefühl der Erleichterung, wie ich es mir erhofft hatte, aber auch kein Bedauern. Zumindest war es keine Kastration! Allerdings sah man Nico immer noch leicht durch die Farbe schimmern. Verdammt, ich hatte keinen Bock, mehrere Schichten zu streichen! Nicht mehr heute. Aber darauf würde es hinauslaufen, denn als ich weiterstrich stellte ich fest, dass das Braun der Wand fast überall noch durchleuchtete. So ein Mist aber auch!
Eigentlich hätte ich mir das denken können. Es war immer mehr Arbeit sein Leben auf Vordermann zu bringen, als man zunächst dachte. Wäre ja zu schön, wenn etwas ganz leicht funktionieren würde.

“Nullpunkt”, 78% (c) Mo Kast

Ich hoffe, die kleine Auswahl gefällt euch – im Grund könnte man das ganze Buch hier zitieren, da es so viele tolle Szenen gibt, die einem ins Auge springen oder in Erinnerung bleiben. Wer zum Buch greifen will, sollte sich unbedingt das Taschenbuch – Mo Kast schreibt nicht nur, sie zeichnet aus und hat “Nullpunkt” mit etlichen, tollen, sehr passenden Illustrationen versehen. Ich empfehle dringend die Printausgabe 🙂

Liebe Grüße,
Juliane

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